Mandarinen, so weit das Auge reicht. Sie sind hier am Rande des bolivianischen Dschungels das Haupteinkommen der Bauern. Von süss bis sauer ist alles dabei. Sälte hani so vill Mandarindli g’ässe. Auf den Trucks werden sie haufenweise in die Stadt gefahren und dort an den Grosshandel verkauft. Der Marktpreis für 100 Mandarinen liegt bei knapp zwei Dollar. Lächerlich tief. Später werden sie in Städte wie Sucre oder La Paz transportiert und dort wesentlich teurer weiterverkauft.
Ich frage mich, warum denn alle Bauern hier Mandarinen anbauen, obwohl das Land so fruchtbar ist? „Es sei halt einfacher, das Gleiche zu machen, wie alle anderen. Sicherheit und so. Man weiss, die Mandarinen gelingen. Ein Risiko einzugehen und plötzlich anderes anzupflanzen? Das kann sich hier fast keiner leisten.“ Das erklärt mir der Sohn der Nachbarn. Er hat studiert, ist Ingenieur. Doch er kam zurück, um den Hof seiner Familie auszubauen. Seine Idee sind Avocados, andere Früchte und mehr Milchwirtschaft. Sein Vater hat lange in Deutschland gelebt, in München Agronomie studiert und dort das Käsen erlernt. Abends essen wir selbstgemachten Tilsiter und ein Honigbier später zeigt mir der Papa seine Lederhos’n. Was füre Überraschig!
Nach einer Woche steht mein Abscheid an und ich setze mich in einen Truck mit einem Berg Mandarinen. Klassikär. Unterwegs laden wir noch einen Mann auf, der zu Fuss unterwegs zur Hauptstrasse ist. Die Strassen sind immer noch schlammig vom Regen. Er geht Barfuss mit ufegrugelete Hosebei, um die Flüsse effizienter zu passieren. Auch wir durchqueren den immer noch recht hohen Rio Piraí. Das braune Flusswasser strömt nur so ins Auto rein. Die Jungs lachen: „Todo bien!“
Ein paar Tage später besuche ich ein Street Food Festival in Santa Cruz. Europäische Preise, Skaterjungs mit Vans und Narcos-Schnauz treffen auf blondierte Mamis mit coolen Kinderwagen und teuren Handtaschen. Obwohl nur ein paar Kilometer entfernt, liegen Welten zwischen dem Dörfli ännet em Piraí und dieser so wohlhabenden Nachbarschaft hier. Gegenteile prallen aufeinenader. Die Ungleichheit könnte kaum extremer sein. Es gäbe in der Stadt zwar viel versteckte Armut, doch ebenso viel Wohlstand. Und Geld aus dem Drogenhandel. Obwohl ich es nicht zum ersten Mal erlebe und es sich überall auf der Welt in irgendeiner Form wiederholt, trifft mich dieser Kontrast. Es ist immer wieder schockierend, wie solche Gegensätze parallel aneinander vorbei existieren können. Schwester Lucy ist mit ihrem Lebenswerk definitiv am richtigen Ort. Sie ist und bleibt eine wirklich inspirierende Frau. Zugleich frage ich mich, wie auch ich etwas zurückgeben kann, obwohl ich nicht so selbstlos bin? Muss ehrlich zugeben, ein Leben als Nonne mit Heimatbesuch alle vier Jahre und so ganz ohne Männer, das wär nüt für mich. Aber um Gutes zu tun, muss man ja nicht immer in den Dschungel ziehen, oder?
