Ich sitze auf dem Rücksitz eines massiven 4WD Trucks und bin auf direktem Weg in den Dschungel. Was ich dort mache? Eine Schweizer Ordensfrau auf Mission besuchen. Wie es soweit kam? Im 2018 hat mir ein lieber Leser dieser Kolumne die Koordinaten seiner Tante 2. Grades in Bolivien anvertraut. In Sucre kontaktiere ich die Schwester Lucy dann spontan – ja, WhatsApp Calls funktionieren auch hier – und wenige Tage später bin ich schon unterwegs! Wir verlassen die Stadt Santa Cruz südwärts, biegen in einem kleinen Dörfli rechts ab und durchqueren noch kurz einen breiten Fluss, den Rio Piraí. Dieser ist zurzeit ungefähr hüfthoch. Etz isch au klar, wieso das so es riese Gfährt vome Auto isch! Auf der einzigen, schlammigen Strasse geht’s tiefer in den Busch hinein. Dann erscheint aus dem Nichts ein „Dörfli“. Ein paar Hüsli, nicht mehr. Hier ist es also, das Zuhause von Lucy. Eine kleine Schule, eine noch kleinere Krankenstation und das Wohnhaus der Nonnen: Schwester Lucy und Hermana Margerita. Und die zwei knuddligen, übergrossen Schäferhunde Balu und Sämi.
Für eine Millisekunde fragte ich mich im Vorfeld aber schon: Isches ächt es Problem, dass ich nöd religiös bin? Sind meine Tattoos zu auffällig oder gar anstössig? Doch Fehlalarm. Ganz im Gegenteil: Lucy, Margerita und alle Menschen, die ich vor Ort kennenlernte, haben mich mit den herzlichsten, offenen Armen empfangen.
Während einer Woche erkunde ich die Umgebung, treffe Nachbarn und sauge die Erzählungen von Lucy nur so auf. Die 76-jährige lebt hier seit über 44 Jahren und hat die Krankenstation na dis na auf- und ausgebaut. Zuvor war sie in Südafrika und bildete dort Krankenschwestern aus. Während der Apartheid! Stellät eu vor! Dann kam sie nach Bolivien, als die Szenen hier noch ganz anders aussahen. Ich blättere durch alte Fotoalben, sehe Krankheiten wie Lepra. Eine Infrastruktur gabs schlichtweg nicht. Strassen und Verkehrsmittel? Nada. Fünf Stunden wandern oder mit dem Pferd zwei Stunden ins Dörfli reiten. Geschichten gibt es viele, man könnte (sollte) ein Buch füllen. Einmal, da hätten sie für den Muttertag Mehl und Zucker eingekauft, damit die Kinder in der Schule backen können. Und dann war der Fluss so hoch, dass sie mitsamt dem Pferd beinah ertrunken wären und alles nass wurde. Das Mehl und den Zucker hätten sie trotzdem verwendet, den Müttern habe es geschmeckt. Auch von Schlangen im Garten ist die Rede, von Einbrechern, die sich im Kleiderschrank versteckten und von Flüchtigen aus dem nahegelegenen Gefängnis, die nachts anklopften und um Hilfe baten.
Darauf angesprochen, ob sie denn kein Tagebuch habe oder ihre Lebensgeschichte niederschreibe, meint Lucy nur: Ach, dafür habe ich keine Zeit – villicht spöter, wänni nümme so guet z’Fuess bin! Ich hingegen bin mit dem Erzählen noch nicht fertig und berichte euch nächste Woche mehr zum Alltag auf der Krankenstation.
