Gedanken zum Volunteering in Peru und COVID 19

Wie viele von euch wissen, habe ich im letzten Jahr fünf Monate in Peru verbracht und für eine britisch-peruanische NGO gearbeitet. Einen Tag pro Woche unterrichtete ich in einer kleinen lokalen Primarschule Englisch, die übrigen vier Tage arbeitete ich im Büro der NGO.

Freiwilligenarbeit ist kontrovers – das ist ein grosses Thema. Kritiken wie moderner Kolonialismus, white saviour complex oder Voluntourism sind nicht unberechtigt und auch ich habe mir dazu meine Gedanken gemacht. Im Falle von meinem Arbeitseinsatz konnte und kann ich aber hinter dem Projekt HELP English stehen, weil hier ganz konkreter Bedarf seitens der Schulen an die NGO geäussert wurde. Der peruanische Schulplan sieht Englischunterricht nämlich als Pflichtfach vor, die Regierung kann aber – vor allem in diesen kleinsten öffentlichen Schulen in ländlichen Regionen – oftmals keine Lehrerinnen und Lehrer mit Englischkenntnissen stellen. Deshalb springen wir ein.

Dank einem strukturierten Lehrplan weiss ich jede Woche, was ich unterrichten werde. Jede Klasse hat ein eigenes Schulbuch mit verschiedenen Themen. Gestartet wird mit Buchstaben, der Aussprache von Wortlauten bis hin zu Grammatik, Zeitformen und Satzbildung. Klingt alles einfacher, als es eigentlich ist. So eine Schulzimmer-Situation ist in meinem Fall nämlich deutlich anders, als ich diese aus meiner eigenen Schulzeit in Erinnerung habe. Von Disziplin, stillsitzen, zuhören oder konzentrieren keine Spur. Es ist so chaotisch, wie es nur geht. Oder isch das bi eus au so gsi?! Dabei hilft es wenig, dass wir zwischen 25 und 30 Kinder in einem Raum unterrichten, unter denen alle Fähigkeitsstufen vertreten sind.  In der hintersten Reihe sitzen sechs Kids mit starken Lernschwächen (bspw. in der zweiten Primarklasse noch keine motorischen Fähigkeiten, um den Farbstift korrekt zu halten und ein Bild auszumalen…) und vorne die ganz Gerissenen, die auf jede Frage gleich die Antwort kennen und sie ungefragt rausposaunen. Kein Kommentar zu dieser Sitzordnung, meiner Meinung nach hilft diese nämlich niemandem…

Und ja: Einmal Englischunterricht pro Woche, das ist ein bisschen ein Tropfen auf den heissen Stein, wenn ich ehrlich bin. Denn es ist nicht so, dass die Kids Hausaufgaben machen. Dass sie sich an gelerntes erinnern, ist eine riesige Hürde, die ich wahnsinnig unterschätzt habe. Selbst bei den Sechstklässlern können wir heute eine Aufgabe machen und ich denke “Mol, die händs checkt”. Und eine Woche später, hat keiner der Kids jemals was davon gehört und alle schauen mich nur mit grossen fragenden Augen an. Da hintersinnä ich mich scho, wie nachhaltig der Unterricht denn genau ist und was man hier verbessern muss / kann / soll… Am überraschendsten waren dann hingegen die Kindergärtler, die ja wirklich teils noch die winzigsten Knöpfe sind, aber ein super Erinnerungsvermögen haben. Sie erinnern sich jede Woche an alle Farben, viele Tiere und sogar die Zahlen. In Spanisch und Englisch!

Was mich vor allem jetzt, zu Zeiten von COVID19-bedingten Schulschliessungen beschäftigt, ist die Tatsache, dass viele dieser Kids in der Schule nicht nur lernen, sondern auch frühstücken und “beschäftigt werden”. Obwohl es mich beim täglichen Frühstück von O-Saft aus der Packung, einem Ei (ebenfalls in Plastik verpackt…) und einem Brötli ab und zu an meine Grenzen brachte, wenn ein Ei durch’s Schulzimmer flog oder ich nach einer Umarmung zerkaute Ei-Resten in meinen Haaren fand, ist diese Mahlzeit extrem wichtig für die Schüler. Oftmals deckt dieses Frühstück einen relevanten Tagesbedarf an Kalorien, Vitaminen und Proteinen der Schüler ab.

Zudem sind viele Eltern nicht in der Lage, Kinderbetreuung und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Selbst unter “normalen Umständen” sind sie oft gezwungen, ihre Kids mit 12-14 Jahren aus der Schule zu nehmen und zur Arbeit zu schicken, damit die Familie über die Runden kommt. In Momenten wie jetzt? Ich wett nöd dra dänke… In einem reichen, sozialen Staat wie der Schweiz zu leben, das ist das eine. Ja, hier werden milliardenschwere Hilfspakete geschnürt und der Wirtschaft sowie der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. In einem Entwicklungsland als Teil einer von Armut betroffenen Bevölkerung zu leben, ist etwas ganz anderes. Auch wenn mir die Massnahmen hier in der Schweiz vor wenigen Wochen noch “unverhältnismässig” vorkamen, hat sich das inzwischen geändert. Zu sehen, wie bei uns und in Nachbarländern gekämpft wird, lässt mich nur mit Grauen daran denken, wie das die Entwicklungsländer in Asien und Südamerika treffen könnte/wird. 

Ein anderes Projekt der NGO in Huanchaco war zudem die Skate-Ramp. Sie wurde in einer Nachbarschaft gebaut, wo den Haushalten bis heute kein fliessendes Trinkwasser zur Verfügung steht, weil die Umsiedlung nach der Wetterkatastrophe El Nino nie korrekt stattgefunden hat. Warum dort? Weil es da gar keine Infrastruktur für Kinder und Jugendliche gibt. Somit haben die Kinder einen Ort, wo sie betreut Zeit verbringen können. Wo sie etwas lernen und kreativ sein können, sich bewegen und Spass haben können. Und das, während ihre Eltern die Zeit nutzen, einer Arbeit nachzugehen und Geld zu verdienen. Eine Art Kinderhort für alle Altersklassen. Nicht immer einfach, ein paar Pubertierende in die Schranken zu weisen, sie an die Helmtragepflicht beim Skaten zu erinnern und gleichzeitig Kleinkinder, die gerade knapp laufen gelernt haben, im Auge zu behalten.  

Das sind Projekte, hinter denen ich durchaus stehen kann und die bei der NGO auch wirklich gut funktionieren. Es gibt noch weitere Projekte, die ich ebenfalls gut finde, oftmals aber betreffend ihrer Nachhaltigkeit oder dem Empowerment-Faktor hinterfrage. Eine NGO sollte ja eigentlich etwas temporäres sein. Eine Institution, die während einer “Krise” etwas aufbaut, dann für das Empowerment der Community aufkommt und am Schluss die Verantwortung abgibt und sich zurückzieht. Wie das aussehen könnte? Zum Beispiel, dass auch die Lehrer unterricht erhalten und dann später selbst Englisch unterrichten können. Oder, dass lokale Jugendliche aus der nächstgrösseren Stadt, die Skate Ramp übernehmen und betreuen können. So, dass sich die Community gegenseitig selbst unterstützen und weiterbringen kann.

Bei beiden Projekten,  HELP Englisch sowie der Ramp, wurde in den letzten Monaten vermehrt mit lokalen Freiwilligen zusammengearbeitet und Verantwortung laufend übergeben. Das finde ich echt super und erstrebenswert, um auch dem Phänomen von “Voluntourism” entgegenzuwirken. Zudem war ich in Trujillo als Lehrerin mit dabei, als wir zum ersten Mal einen Abend lang eine Englisch-Sprachschule mit ca. 80 Erwachsenen in 6 Gruppen aufgeteilt unterrichtet haben. Das war eine sensationelle Erfahrung und wird auch weitergeführt. 

Und zu guter letzt möchte ich an dieser Stelle nochmals einen RIESEN Dank aussprechen. Und zwar an alle grosszügigen Spender, die an meinem Vortrag vom 23. Januar der IG Kultur Benken einen Batzen für die NGO hinterlassen haben. Es sind total sagenhafte CHF 1’148.80 zusammengekommen, welche ich für das Projekt der Skate Ramp gespendet habe. Vor allem jetzt, wo Kinder nicht mehr zur Schule dürfen, stellt dies eine noch grössere Herausforderung für Eltern am Existenzminimum dar und ich bin überzeugt, dass die Spende nach bestem Wissen und Gewissen eingesetzt wird. 

Strukturierter Lehrplan: Der Unterricht findet mit gezielt dafür erarbeiteten Lehrbüchern und nach einem strukturierten Curriculum statt.
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Waden, Melonenhüte und Llamaföten

In La Paz sucht man Relikte der Kolonialzeit vergebens. Stattdessen überwiegen hier die Spuren der Aymara Kultur. Ich schlendere durch die Strassen und begegne zahlreichen Frauen, die im Alltag die traditionelle Aymara-Tracht tragen. Einen Melonen-Hut wie Charlie Chaplin, dicke Strümpfe und einen enggeschnürten, voluminösen Rock. Spannender Fakt? Der Rock reicht bis zu den Knöcheln, weil die Wade als attraktivster, weiblicher Körperteil gilt. Und das Schönheitsideal sieht so aus: Je grösser die Wade, desto besser. Dies zeuge von Stärke. Und stark, das sind diese Ladies garantiert. In selbstgemachten Körben und farbenfrohen Wickeltüchern tragen sie geballte Ladungen an Lebensmittel & Co. die steilen Strassen hoch und runter. Und nicht zu vergessen: Wir bewegen uns hier wieder in der dünnen Luft. La Paz liegt auf anstrengenden 3.640 M.ü.M. und El Alto, ein Stadtteil, gar auf über 4000 M.ü.M.!

Am besten nimmt man ein Gondeli, um entspannt in diese höheren Gefilde zu gelangen. Die Gondeln sind übrigens dem sonst sehr umstrittenen Präsidenten Herrn Morales zu verdanken. Immerhin ist das ein wirklich geglücktes Projekt, um den öffentlichen Personenverkehr in den sonst wahnsinnig verstopften Strassen von La Paz zu verbessern. Vorbildlich! Doch warum soll man genau nach El Alto? Nun, besonders sehenswert sind der Hexenmarkt sowie die „Feria 16 de Julio“. Am kilometerlangen Markt kann man praktisch alles kaufen: Von Schwarzmarktprodukten bis zu Körperteilen von Schaufensterpuppen, von Schweinen (lebend wie tot) bis zu Hühnerfüssen, von einer Tonne Ramsch bis hin zu Utensilien, die man effektiv gebrauchen kann – es ist alles dabei. Und die Hexenmärkte, nun, diä sind scho bitz gruslig. So kann man dort ohne Weiteres tote Llama-Föten, Skelette und Tinkturen shoppen. Solche Hexenmärkte besucht man besser mit dem notwendigen Respekt. Oder will öppä öpper verhäxt werdä?! Ja, man glaubt hier fest an Mythen, Sagen und Magie. Und natürlich auch an die Pachamama. Aber: Wofür sind ez gnau die Llama-Babies?

Einst opferte man vor dem Bau eines neuen Hauses stets ein (Menschen-)Baby. Ich schwanke zwischen Schaudern und Unglauben. Abei nei, alles ganz im Ernst! Und erstaunlicherweise werden bis heute ähnliche Zeremonien verfolgt, nur nimmt man dazu mittlerweile ein totes Llamababy. Immerhin! Zudem eines, das aus „natürlichen“ Gründen verstorben ist. Immerhin zum Zweiten! Dazu grad noch eine passende Anekdote: Aktuell baut La Paz ein neues Regierungsgebäude. Auf eine Opfergabe wurde im Konstruktionsprozess verzichtet. Und dann, für viele ganz unüberraschend, stürzte ein Arbeiter vom Hochhaus und verstarb. Die einen sind sich einig: „Pachamama hat hier ein Leben gefordert!“ Ich denke mir eher: „Kein Wunder, bei den fehlenden Sicherheitsstandards bei den hiesigen Bauprojekten.“ Aber hey, ich wills mer au nöd verscherze mit de Pachamama, also psst!

Weder Wandern, noch Skifahren: Hier dient die Gondel dem öffentlichen Personenverkehr. Ein innovativer Ansatz, um den vom Stau geprägten Strassen La Paz den Kampf anzusagen.

Mandarinen und Gegensätze

Mandarinen, so weit das Auge reicht. Sie sind hier am Rande des bolivianischen Dschungels das Haupteinkommen der Bauern. Von süss bis sauer ist alles dabei. Sälte hani so vill Mandarindli g’ässe. Auf den Trucks werden sie haufenweise in die Stadt gefahren und dort an den Grosshandel verkauft. Der Marktpreis für 100 Mandarinen liegt bei knapp zwei Dollar. Lächerlich tief. Später werden sie in Städte wie Sucre oder La Paz transportiert und dort wesentlich teurer weiterverkauft.

Ich frage mich, warum denn alle Bauern hier Mandarinen anbauen, obwohl das Land so fruchtbar ist? „Es sei halt einfacher, das Gleiche zu machen, wie alle anderen. Sicherheit und so. Man weiss, die Mandarinen gelingen. Ein Risiko einzugehen und plötzlich anderes anzupflanzen? Das kann sich hier fast keiner leisten.“ Das erklärt mir der Sohn der Nachbarn. Er hat studiert, ist Ingenieur. Doch er kam zurück, um den Hof seiner Familie auszubauen. Seine Idee sind Avocados, andere Früchte und mehr Milchwirtschaft. Sein Vater hat lange in Deutschland gelebt, in München Agronomie studiert und dort das Käsen erlernt. Abends essen wir selbstgemachten Tilsiter und ein Honigbier später zeigt mir der Papa seine Lederhos’n. Was füre Überraschig!

Nach einer Woche steht mein Abscheid an und ich setze mich in einen Truck mit einem Berg Mandarinen. Klassikär. Unterwegs laden wir noch einen Mann auf, der zu Fuss unterwegs zur Hauptstrasse ist. Die Strassen sind immer noch schlammig vom Regen. Er geht Barfuss mit ufegrugelete Hosebei, um die Flüsse effizienter zu passieren. Auch wir durchqueren den immer noch recht hohen Rio Piraí. Das braune Flusswasser strömt nur so ins Auto rein. Die Jungs lachen: „Todo bien!“

Ein paar Tage später besuche ich ein Street Food Festival in Santa Cruz. Europäische Preise, Skaterjungs mit Vans und Narcos-Schnauz treffen auf blondierte Mamis mit coolen Kinderwagen und teuren Handtaschen. Obwohl nur ein paar Kilometer entfernt, liegen Welten zwischen dem Dörfli ännet em Piraí und dieser so wohlhabenden Nachbarschaft hier. Gegenteile prallen aufeinenader. Die Ungleichheit könnte kaum extremer sein. Es gäbe in der Stadt zwar viel versteckte Armut, doch ebenso viel Wohlstand. Und Geld aus dem Drogenhandel. Obwohl ich es nicht zum ersten Mal erlebe und es sich überall auf der Welt in irgendeiner Form wiederholt, trifft mich dieser Kontrast. Es ist immer wieder schockierend, wie solche Gegensätze parallel aneinander vorbei existieren können. Schwester Lucy ist mit ihrem Lebenswerk definitiv am richtigen Ort. Sie ist und bleibt eine wirklich inspirierende Frau. Zugleich frage ich mich, wie auch ich etwas zurückgeben kann, obwohl ich nicht so selbstlos bin? Muss ehrlich zugeben, ein Leben als Nonne mit Heimatbesuch alle vier Jahre und so ganz ohne Männer, das wär nüt für mich. Aber um Gutes zu tun, muss man ja nicht immer in den Dschungel ziehen, oder?

Kann alles: Mit diesem Gefährt ist eine Flussdurchquerung mitsamt Passagieren und einer gefühlten Tonne Mandarinen kein Problem.

Auf Schulbesuch

Natürlich darf auch ein Besuch der Primarschule nicht fehlen. Direktor Juan führt mich stolz herum, stellt mir die Lehrertruppe sowie die Kids vor. Bienvenido! Ich käme gerade richtig, denn heute sei „Tag der Krankenschwester“. Zur Feier des Tages haben die Lehrer sowie Schüler eine Überraschung für Schwester Lucy vorbereitet. Die gesamte Schule versammelt sich draussen im Grünen. Die Kinder tragen selbstgeschriebene Reden vor, sie danken dem Einsatz der Krankenschwestern zum Wohl der Gemeinschaft. Was für ä herzigi Aktion! Dann geht der normale Schulalltag weiter. Die verschiedenen Klassenstufen sind pro Klassenzimmer aufgeteilt, vom kleinen Kindergarten bis zur 6. Klasse. Eine klassische Primarschule. Die Infrastruktur ist einfach, die Kids sind aufmerksam. Sie zeigen mir, wie sie Zahlen lernen, wie sie die Uhrzeit lesen, wie sie rechnen und den Zirkel beherrschen. Englisch wird nicht unterrichtet, wäre aber gewünscht. Gar die Lehrer bitten mich, ihnen Englisch beizubringen.

Als ich mit der Kamera um den Hals auf dem Pausenplatz rumspaziere, kommt ein Junge auf mich zu und will Fotos schiessen. Klar doch! Seine Familie habe auch eine Kamera zuhause. Ja, was? Der Rest der Kids weiss nicht so recht, wie das Fotografieren funktioniert. Einer nach dem anderen schiesst etwa hundert Nahaufnahmen von Nasenlöchern und Pupillen. Sie kreischen und lachen – ich auch. Ä Nahufnahm vo mim Ohrläppli hät mer grad no gfehlt.

In der Pause wird viel gespielt, doch es gibt auch den täglichen Znüni: Guetzli und gesüsste Milch. Calcium und so. Viele Kinder kommen aus ärmsten Verhältnissen und die Schule sorgt dafür, dass die Kids während dem Unterricht keinen Hunger haben. Hier geht’s darum, genügend Energie zum Lernen zu haben. Nicht um die Bikinifigur. Klar ist es nicht gut für die Gesundheit, zu viel Zucker zu essen – aber es ist auch nicht gut für die Gesundheit, gar nix zu essen. Bei den Kindersprechstunden auf der Krankenstation sah ich viele Kinder mit einem Vitaminmangel, die zugleich übergewichtig waren. Die Eltern oder Grosseltern tun wirklich alles, damit die Kinder gesättigt sind. Aber die Mittel sind begrenzt und eine ausgewogene, gesunde Ernährung ist leider zu oft ein Luxus.

Juan, der Direktor, äussert sich immer wieder sehr dankbar gegenüber Schwester Andrea. Sie baute diese Schule auf, so wie Lucy die Krankenstation auf die Beine stellte. Andrea ist leider vor einigen Jahren verstorben, man denkt hier aber tagtäglich an sie. Sehr oft fällt ein Satz wie „Ohne die Hermanas wäre das alles nie möglich gewesen. Heute können wir diesen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen, sie werden vielleicht wirklich einmal Polizisten!“ Tatsächlich träumen viele der Kids davon, irgendwann mal Polizist, Lehrer/in oder Ärztin zu werden. Ich drücke von Herzen die Daumen, dass die Zukunftsträume der Jungmannschaft in Erfüllung gehen werden.

Znüni-Ziit: Morgens kriegt jedes Kind ein Tassli voll gesüsster und mit Vitaminen angereicherter Milch sowie ein paar Guetzli.

Alltag auf der Krankenstation

Während meinem Besuch bei Schwester Lucy regnet’s während Tagen ununterbrochen. Der Rio Piraí steigt auf unüberwindbare sieben Meter an. Reissende Fluten schotten uns ab. Ganze Strassenabschnitte sind unpassierbar, Schlamm überall. Der Strom fällt für 48 Stunden aus. Abends ist es früh finster, nur ein paar Kerzen geben Licht. Die Geräusche aus dem Wald sind laut, intensiv und schön. Für die Krankenstation ist das Ganze jedoch weniger idyllisch. Dort fällt der Kühlschrank mit den Impfungen aus. Sie müssen zu einem Nachbarn evakuiert werden. Warum dieser Strom hat? De hät heimlich ä anderi Stromleitig azapft. Smart!

Als Lucy hier ankam, gabs aber weder Strom noch Telefonanschluss. Wie das damals mit dem medizinischen Minimum wohl zu und her ging? Als die Cholera ausbrach und sie die Menschen an Händen und Füssen mit Infusionen versorgten? Unvorstellbar! Lucy erzählt, dass man früher bei einem Notfall auch im Dunkeln sein Zeugs finden musste. Drum gilt bis heute eine präzise Organisation: Alläs hät sin Platz. Vor allem die Medikamentenkammer beeindruckt mich: Der Traum eines Inventar-Fetischisten. Die Medis selbst kommen meist aus Deutschland. Sie hangen zwar stets ewig am Zoll fest, denn Post zu empfangen, das sei bis heute schwierig. Aber Medis aus Europa seien einfach besser. Hier könne man zwar ein Paracetamol kaufen, aber ob auch Paracetamol drin sei?

Jeden Morgen warten die Menschen in einer langen Schlange vor dem Eingang. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen – wenn es die Strassenverhältnisse denn zulassen. Teils ist die Klinik ihre letzte Hoffnung. Hier gehts an erster Stelle darum, den Menschen zu helfen, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. So verlangen Lucy und ihr Team von den ärmsten Patienten häufig nur einen minimalsten Unkostenbeitrag. Ein paar Rappen. „Man kennt sich halt und man weiss, wer nichts hat.“

In den Behandlungsräumen führen sie Behandlungen von ambulanten Patienten und Sprechstunden durch. Zudem gibts ein winziges Labor und einen Raum für kleinere Eingriffe. Die Infrastruktur ist für Schweizer Verhältnisse scho rächt alt, aber wird mit so viel Sorgfalt gepflegt, dass sie bestimmt nochmals weitere 40 Jahre im Einsatz bleiben kann. Auch Hausbesuche oder Impfbesuche im nahegelegenen Gefängnis gehören zum Alltag der Krankenschwestern. Das Team ist wahnsinnig familiär. Renato beispielsweise stiess vor über 20 Jahren als Krankenpfleger zum Team. Er musste in der Schule auf einer Matratze schlafen, weil es an Unterkunft fehlte. Doch er ist bis heute geblieben und ist mittlerweile sogar Arzt.

Ihr fragt euch, wie das hier alles finanziert wird? Gemäss Lucy stammen die Spenden aus dem Kirchen-Umfeld sowie aus privater Hand. Ich selbst hätte ja nie gedacht, dass ich mal so hinter die Kulissen sehen darf – doch hier auf der Krankenstation kann ich aus erster Hand sagen: Die Spenden gehen definitiv zu jenen, die es wirklich brauchen.

El Centro de Salud: Auf der Krankenstation herrscht eine familiäre Stimmung. Das Team besteht aus Lucy sowie zwei Ärzten und den Krankenschwestern aus Bolivien.

Zu Besuch bei Schwester Lucy

Ich sitze auf dem Rücksitz eines massiven 4WD Trucks und bin auf direktem Weg in den Dschungel. Was ich dort mache? Eine Schweizer Ordensfrau auf Mission besuchen. Wie es soweit kam? Im 2018 hat mir ein lieber Leser dieser Kolumne die Koordinaten seiner Tante 2. Grades in Bolivien anvertraut. In Sucre kontaktiere ich die Schwester Lucy dann spontan – ja, WhatsApp Calls funktionieren auch hier – und wenige Tage später bin ich schon unterwegs! Wir verlassen die Stadt Santa Cruz südwärts, biegen in einem kleinen Dörfli rechts ab und durchqueren noch kurz einen breiten Fluss, den Rio Piraí. Dieser ist zurzeit ungefähr hüfthoch. Etz isch au klar, wieso das so es riese Gfährt vome Auto isch! Auf der einzigen, schlammigen Strasse geht’s tiefer in den Busch hinein. Dann erscheint aus dem Nichts ein „Dörfli“. Ein paar Hüsli, nicht mehr. Hier ist es also, das Zuhause von Lucy. Eine kleine Schule, eine noch kleinere Krankenstation und das Wohnhaus der Nonnen: Schwester Lucy und Hermana Margerita. Und die zwei knuddligen, übergrossen Schäferhunde Balu und Sämi.

Für eine Millisekunde fragte ich mich im Vorfeld aber schon: Isches ächt es Problem, dass ich nöd religiös bin? Sind meine Tattoos zu auffällig oder gar anstössig? Doch Fehlalarm. Ganz im Gegenteil: Lucy, Margerita und alle Menschen, die ich vor Ort kennenlernte, haben mich mit den herzlichsten, offenen Armen empfangen.

Während einer Woche erkunde ich die Umgebung, treffe Nachbarn und sauge die Erzählungen von Lucy nur so auf. Die 76-jährige lebt hier seit über 44 Jahren und hat die Krankenstation na dis na auf- und ausgebaut. Zuvor war sie in Südafrika und bildete dort Krankenschwestern aus. Während der Apartheid! Stellät eu vor! Dann kam sie nach Bolivien, als die Szenen hier noch ganz anders aussahen. Ich blättere durch alte Fotoalben, sehe Krankheiten wie Lepra. Eine Infrastruktur gabs schlichtweg nicht. Strassen und Verkehrsmittel? Nada. Fünf Stunden wandern oder mit dem Pferd zwei Stunden ins Dörfli reiten. Geschichten gibt es viele, man könnte (sollte) ein Buch füllen. Einmal, da hätten sie für den Muttertag Mehl und Zucker eingekauft, damit die Kinder in der Schule backen können. Und dann war der Fluss so hoch, dass sie mitsamt dem Pferd beinah ertrunken wären und alles nass wurde. Das Mehl und den Zucker hätten sie trotzdem verwendet, den Müttern habe es geschmeckt. Auch von Schlangen im Garten ist die Rede, von Einbrechern, die sich im Kleiderschrank versteckten und von Flüchtigen aus dem nahegelegenen Gefängnis, die nachts anklopften und um Hilfe baten.

Darauf angesprochen, ob sie denn kein Tagebuch habe oder ihre Lebensgeschichte niederschreibe, meint Lucy nur: Ach, dafür habe ich keine Zeit – villicht spöter, wänni nümme so guet z’Fuess bin! Ich hingegen bin mit dem Erzählen noch nicht fertig und berichte euch nächste Woche mehr zum Alltag auf der Krankenstation.

Anspruchsvolle Strassenverhältnisse: Mit dem maximalstem Allrad geht’s zuerst durch den Fluss, dann durch den Schlamm.

Chicha, Caseritas und Pachamama

In Sucre prallen Einflüsse verschiedener Nationen und Kulturen aufeinander. Hier eine weisse Kathedrale, dort traditionell gewebte Stoffe der Jalq’a Kultur. Sucre war während der Spanischen Herrschaft eine bedeutende Stadt, das kann man nicht verleugnen. Die unzähligen Kolonialbauten und die Gegenwart von über einem Dutzend Kirchen auf engstem Raum sind eindeutige Spuren. Apropos Kirchen: Diese sind unterirdisch alle mit Gängen verbunden. Die Spanier hielten das Tunnelsystem im Falle einer Revolution als Fluchtroute bereit. Wir selbst klettern in einen solchen Tunnel und lauschen einer fürchterlichen Geschichte: Einst fand man hier drin jede Menge Babyskelette von unehelichen Kindern der Nonnen. Heftig, aber leider auch nicht ganz so überraschend. Ich hingegen frage mich, wieso ich nun schon wieder auf allen Vieren unter der Erde rumkrieche?! Aber ja.

Ab dem 16. Jahrhundert verdienten die Spanier & Co. ihr Geld zwar in Potosi, lebten aber lieber in Sucre. Drum ist die Demografie der Stadt bis heute sehr multikulturell. Auch seien die Menschen hier sehr offen, es gäbe kaum Rassismus-Probleme gegenüber Nachkommen der indigenen Völker. Das sei in La Paz leider anders. Doch warum lebt(e) es sich in Sucre so angenehm? Der Höhe wegen: Mildes Klima, fruchtbares Land und zudem kann man hier entspannt atmen. Ich muss zugeben, auch ich spaziere wesentlich gemütlicher und ohne eine halben Herzkasper. Ächli durch das Markttreiben bummeln, frische Früchte einkaufen und der Caserita noch ein “Yapita” abschwatzen. Läuft! Die Caserita ist übrigens die Marktfrau. Sobald man „seine Caserita“ gefunden hat, ist man praktisch zur Stammkundschaft verpflichtet. Dafür kriegt man aber bessere Preise und eben auch ein Yapita. Das kann ein Probiererli einer neuen Frucht oder etwas Nachschub beim frischgepressten Saft sein. Oder no bitz meh Chicha! Das ist ein alkoholisches Getränk aus Mais und wird oft aus einem Glas mit Brüsten getrunken. Jap, richtig gelesen. Ein älterer – zimli sicher betrunkenä Herr – erklärt mir im heiligen Ernst, dass ein Kind seine Stärkung ja auch aus den Brüsten der Mutter kriege. Deshalb würden die Männer den Chicha auch „aus den Brüsten“ trinken. Si, claro. Und immär dra dänke: Dä ersti Schluck muess an Bodä gleert werdä! Das macht man nämlich so, um die Pachamama zu ehren. Sie ist die Göttin der Fruchtbarkeit, die alles Leben kreiert: Mutter Erde. Darum geht der erste Schluck „in die Erde“.

Auch spannend: Für die Jalq’a – ein anderes indigenes Volk – ist die Hölle der fruchtbarste Ort, wo alles Leben entsteht. Auf ihren Teppichen und Läufern stellen sie häufig das bunte Treiben in der Hölle dar. Dabei ist der Mensch meist nur ein kleiner Knirps zwischen Insekten, Kühen und anderen Kreaturen. Was das bedeutet? Sie sahen uns Menschen nur als unwichtige Spezies im grossen Tierreich. Das find ich ja mal en schöne Asatz!

Herzig: Die Spanier liessen sich bei der Namensgebung dieser Gassen von den pelzigen Bewohnern inspirieren. Hier regierte el Gato Negro (schwarze Katze), nebenan el Gato Blanco (weiss) und zu guter letzt gabs noch el Gato Pendenciero (zänkisch).

Silber, Silber, Silber

Potosi’s Stadtkern empfängt uns mit farbigen Bauten im Kolonialstil. Alles fein säuberlich herausgeputzt. Nume für d’Touris? Nein, eher eine Zeitreise! Ein Blick in die Vergangenheit, in die Zeit von Reichtum und wirtschaftlichem Boom. Doch warum? Silber, Silber, Silber.

Die Spanier haben dieses im 16. Jahrhundert im Berg „Cerro Rico“ entdeckt und den Silberrausch ausgelöst. Der Start einer jahrhundertelangen, heute noch stattfindenden Ausbeutung. Silber und andere Edelmetalle werden nämlich nach wie vor abgebaut: Rund 7’900 Minenarbeiter arbeiten hier. Ich habe spontan entschieden, unter Führung eines Ex-Minenarbeiters an einer Tour in der Mine teilzunehmen. Im Nachhinein muss ich zugeben: Wiederholen würde ich es nicht. Das waren mit Abstand die längsten eineinhalb Stunden meines Lebens.

Ausgerüstet mit Getränken, Snacks und Dynamit gehts zur Mine. Den Dynamit zum Sprengen müssen die Arbeiter nämlich selbst kaufen. Sie leben mit ihren Familien direkt neben dem Tunneleingang. Ein scheinbar kleines Loch, das von alten Holzbalken gestützt wird. Genau so, wie man es aus alten Western-Filmen kennt. Da müend mir abechlättere!? Stirnlampe an und ab gehts in die Dunkelheit. Auf einer Leiter kraxle ich den engen Tunnel runter. Immer wieder können wir uns nur geduckt oder auf allen Vieren fortbewegen. Mir ist himmelelend. Über mir zig Tonnen Gestein. Was, wänn das alles zämekracht?! In die stützenden Holzpfosten hab ich wenig Vertrauen.

Unser Guide erzählt, wie er hier als 14-Jähriger arbeitete. So wie sein Vater und Grossvater. Eine Ausbildung hat hier keiner, ihr Wissen gibt die ältere Generation der Jungmannschaft. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Arbeiter liege bei 45 Jahren. Lungenkrebs. Der Feinstaub ist aggressiv, doch von Filtermasken keine Spur. Die Männer glauben, dass das Kauen von Coca-Blättern als natürlicher Filter funktioniert. Ehm ja. Sie beten zudem aufrichtig zum El Tio, dem Gott der Unterwelt. Bitten ihn um Sicherheit und Schutz. Wir setzen uns neben eine solche El Tio Statue, die mit Zigaretten, Alkohol, Cocablättern oder Guetzli beschenkt wurde. Hier weist uns der Guide an, unsere Stirnlampen ausmachen. Gesagt, getan. Während einer Minute sitzen wir in der dunkelsten Dunkelheit, die ich je erlebt habe. Hunderte Meter in einem Berg drin. Mein Puls pocht mir in der Stirn, ich bin den Tränen nahe.

Zurück im Sonnenlicht atme ich zwar durch, doch der Nachgeschmack dieser Erfahrung sitzt mir lange in den Knochen. Denn die Minenarbeiter klettern nach wie vor tagtäglich da runter. Mein kurzer Einblick in ihr Leben steht in keinem Verhältnis zu ihrer Realität. Und wofür? Für Rohstoffe, die nach Asien exportiert und in Mikrochips für unsere Kameras, Handys, Laptops verarbeitet werden. Das Ganze widerspiegelt wiedermal unser System, die Ungleichheit und eine Wertschöpfungskette, die wir viel zu wenig hinterfragen.

Dünne Luft: Potosi liegt auf 4067 Metern über Meer und ist eine der höchstgelegenen Städte der Welt. Im Hintergrund thront der Berg „Cerro Rico“.

Ganz schön salzig hier

Das wohl berühmteste Highlight auf der Durchreise von Chile nach Bolivien ist die Salar de Uyuni. Sie wird mal als Salzsee, dann als Salzpfanne, als Salzwüste oder gar als Salzdepot beschrieben. Der Begriff Depot scheint nahegelegen, da hier in der Tat mehrere Milliarden Tonnen Salz rumliegen. Schneeweiss (oder salzweiss?) blendet’s bis zum Horizont.

Wir übernachten im nahegelegenen Salzhotel. Geschlafen wird auf Salzbetten. Ob mit Salzwasser geduscht wird? Nein. Aber beim Znacht fordern uns ein paar Jungs heraus, den Tisch abzulecken. Wie bitte?! „Ja, kän Witz, probierät mal!“ „Sicher nöd!“ Eine gute Flasche Wein später lecken wir tatsächlich am Tisch und siehe da: Auch der ist aus Salz! Kein Kommentar. Vor dem Zubettgehen gibt unser Guide dann die Anweisung: Bringt morgen Flipflops mit! Ehm okay, Temperaturen für Flipflops herrschen hier keine. Im Gegenteil: Es ist immer noch eiskalt. Und nach wie vor macht uns die Höhe zu schaffen. Die Luft ist so trocken, dass mir beim Lachen ständig die Lippen aufreissen. Da hilft auch das fleissige Cremen wenig. Beim Zähneputzen stäubt es nur so. Autsch.

Am nächsten Morgen gehts dann in aller Frühe los, um den Sonnenaufgang über Uyuni zu betrachten. Das Szenario ist besonders spektakulär, weil ein Teil des Salzsees unter Wasser ist. Das eiskalte Nass reicht bis knapp über den Knöchel und sorgt für sensationelle Spiegelungen. Jetzt wissen wir auch, weshalb wir in Flipflops munitioniert dastehen. Die Trekkingschuhe in der Salzlösung zu baden, wäre nicht so ideal gewesen. Nur hat keiner erwähnt, wie eisig dieses Wässerli hier ist. Es lebe der Gefrierpunkt von Salzwasser. No nie i mim ganze Läbe hani so en Chüänägeler gha! Zurück im Auto müssen die Füsse zuerst wie verrückt wiederbelebt werden. Nach einer halben Stunde fliesst das Blut endlich wieder normal. Und die Schuhe? Diese erstarrten in einer getrockneten, millimeterdicken Salzkruste. He nei, was für e Aktion! Eine kleine Überraschung gibts dann doch noch: Eine Kaktusinsel in der Mitte der Salzwüste. In diesem salzigen Umfeld kommen ja sonst – logischerweise – fast keine Lebewesen vor. Aber auf der Isla Incahuasi florieren die riesigen Kakteen wie wild. Wie das alles dahin kam? Es handelt sich bei dem Gestein um die Überbleibsel eines über 40’000 Jahre alten Vulkans.

Das Städtchen Uyuni selbst ist wiederum ein trauriger Fleck. Lieblos, mit viele unfertigen Gebäuden wiederspiegelt der Ort eine harte Realtät: Der Boden ist zum Anbau von Lebensmittel nicht geeignet, Wasser bleibt ein rares Gut und die Witterungen sind gnadenlos. Wie ein Mahnmal erinnert ein rostiger Eisenbahnfriedhof daran, wie hier vor hundert Jahren Edelmetalle an die chilenische Küste chauffiert wurden. Florierende Wirtschaft oder Ausbeutung? Ein Thema, das hier leider bis heute noch genauso aktuell ist und mich in Bolivien weiterhin beschäftigen wird.

Unreal: Zuerst absolute Dunkelheit, ein klarer Sternenhimmel und dann, mit der aufsteigenden Sonne, verwandelt sich alles ein Gemälde aus Pastellfarben.

Vollgas durch die Wüste

Beim Grenzübergang Hito Cajon auf 4’480 Metern kämpfe ich zum ersten Mal so richtig mit der Höhe. Mir ist superschlecht und ich kann kaum 20 Meter laufen, ohne dass mir das Herz in der Stirn pocht. Kurz den Pass stempeln und los geht die eigentliche Reise: Hola Bolivien! Im 4×4 Überlebensmobil begeben wir uns für drei Tage auf Entdeckungstour. Gestartet wird im Nationalpark Reserva Nacional de Fauna, wo wir mit Vollgas durch den Wüstensand brausen. Vorbei zieht die weite, karge Landschaft. Für Abwechslung sorgen dann idyllische Lagunen. Welch surreale Farbwelt: Violett trifft auf Hellgrün, auf Gelb und auf Hellblau. Rundherum das süsse Nichts. Flamingos spazieren durch die Laguna Blanca. Wovon diese leben? Sie fressen Algen. Wie das Überleben von Pflanzen hier überhaupt möglich ist? Der Mineralgehalt der Lagune erlaubts! Die verschiedenen Mineralstoffe sind es auch, die ein solches Farbenspiel erst erlauben. Später besuchen wir ein Geysir-Feld, wo alles in türkis, grau und orange brodelt und spritzt. Und dann verändert sich die Landschaft: Einsame Felsformationen prägen die pittoreske Salvador-Dali-Wüste. Sie macht ihrem Namensgeber alle Ehre, so scheinen diese Szenen glatt einem seiner Gemälde entsprungen zu sein. Oder umgekehrt.

Geschlafen wird am wohl kältesten Ort aller Zeiten. Ich habe gedacht, kälter als Patagonien muss ich nie (üb)erleben. Denkste. Die Nacht verbringen wir in einem sehr simplen Refugio, mitten in Nirgendwo. Der Sternenhimmel ist mal wieder zum Greifen nah, doch so richtig geniessen können wir das nicht. Viel zu kalt hier! Wie zwei unbewegliche Raupen bibbern wir uns auf dem Steinbett in den Schlaf. Unter fünf Schichten aus Klamotten, Schlafsack und Decken begraben. Nachts wache ich auf und kann kaum atmen. Das liegt teils an der Raupen-Situation, aber primär an der dünnen Luft auf über 5’000 M.ü.M.

Für mittleres Erstaunen sorgt aber unser Fahrer und Guide. Meist erzählt er uns Spannendes. Nur an einem Punkt erklärt er, dass die besonderen Gesteinsschichten dieser Landschaft hier nach der biblischen Sintflut entstanden seien. Ich verbleibe kurz ungläubig, ob es sich dabei um einen Witz handelt? Aber nei, alles im heilige Ernscht! Doch schockieren tut mich das nicht. Ist halt eine andere Realität. Schockieren tun mich vielmehr – mal wieder – die Touristen. Ein ignorantes Volk, das teils Sondergleichen sucht. Besuchen wir eine Felsformation, die Millionen Jahre alt ist (oder halt so alt wie der Noah und seine Arche). Der Fahrer sagt: Betreten verboten, man weiss nie, wann etwas instabil ist. Und spricht ja nüt gäg es bitzli Respekt vor de Natur, oder? Was denkt sich die Tourimasse? Los, raufklettern! Gefühlt auf jeden Stein muss man sich draufstellen. Hier fürs Foto posen, dort ranhängen und für Instagram grinsen. Ich kann kaum hinschauen. Und dann erklingt mir Mami’s Stimme im Ohr: Bis eine brüelt…

Ein Farbenspiel: Abhängig von der Windstärke, dem Sonnenlicht und dem Mineralgehalt im Wasser wechseln die Lagunen ihre Farbe. Nur die Flamingos bleiben pink.